Prof. Dr. Bernd Jochen Hilberath

Forschungsprojekt


Kompetenz und Kooperation
in hierarchischen und nichthierarchischen Organisationen


1. Die theologische Diskussion um die Ekklesiologie der Communio

Spätestens seit der Außerordentlichen Römischen Bischofssynode, die 1985 20 Jahre nach Abschluß des II. Vatikanischen Konzils einberufen wurde, ist Communio das Stichwort römisch-katholischer Ekklesiologie. Die Communio -Ekklesiologie sei das Erbe des II. Vatikanischen Konzils, formulierte die genannte Sondersynode. Der Sekretär der SondersynodeWalter Kasper meinte in seinem Kommentar zum verabschiedeten Text, daß mit der Realisierung der Communio -Ekklesiologie bzw. des II. VatikanischenKonzils insgesamt kaum schon recht begonnen sei. Diese Feststellung kann 10 Jahre später, also 30 Jahre nach Abschluß des II. Vatikanums, unverändert stehenbleiben.

Daß bislang so wenig an Communio -Ekklesiologie in die Ekklesiopraxis umgesetzt wurde, hat vielerlei Gründe. Wenn Erneuerung nicht einfach nur von unten her wachsen und dann quasi als kirchliche Realität von den Autoritäten anerkannt werden, sondern wenn diese wesentlich auch von oben her bzw. von den Autoritäten (Konzil usw.) angeregt werden, ergeben sich fast selbstverständlich einschlägige Umsetzungsprobleme. Die Väter des II. Vatikanischen Konzils haben die vorkonziliaren Erneuerungsbewegungen zur Kenntnis genommen, aufgegriffen, bestärkt und ihrerseits Anregungen gegeben oder zumindest Perspektiven eröffnet für eine Erneuerung des kirchlichen Lebens. Nicht wenige in der Kirche haben aber angesichts der Realisierungsversuche bzw. im Blick auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Reformwillens Bedenken, ja Angst vor diesem Weg bekommen. In einer Kirche, in der sehr viel durch Recht und Autorität geregelt ist, ist es eben nicht selbstverständlich, daß im Wechselspiel von Theologie und Praxis, von Versuch und Irrtum, von Konkretisierung und Reflexion sich eine neue Gestalt der Kirche, die gleichwohl ihre alte Bestimmung widerspiegelt, ganz zügig abzeichnet. Wenn dies als epochale Kennzeichnung der Situation der Kirche zutrifft, dann hat ein Forschungsprojekt zur Ekklesiologie an der Schnittstelle von Theorie und Praxis der Kirche, also von Ekklesiologie und Ekklesiopraxie anzusetzen bzw. dies immer im Blick zu haben.

Daß mit der Umsetzung bzw. Realisierung des II. Vatikanischen Konzils noch kaum recht begonnen wurde, hängt freilich nicht nur an den geschilderten Schwierigkeiten im Wechselspiel von Theorie und Praxis. Die Schwierigkeiten resultieren zu einem Teil auch daraus, daß über die theoretischen, d. h. die theologischen Grundlagen der Communio -Ekklesiologie kein Konsens in der Kirche herrscht. Communio selbst ist kein Begriff, der in den einschlägigen Texten des II. Vatikanischen Konzils häufigauftritt oder gar als Leitbegriff fungiert. Diese Funktion kommt eher dem Begriff des Volkes Gottes und dem Begriff der Kirche als Mysterium bzw. Sakrament zu. Gleichwohl ist es richtig, wenn die Synode von 1985 feststellt, daß sich in dem Leitgedanken der Communio das Erbe des II. Vatikanischen Konzils im Blick auf die Ekklesiologie und Ekklesiopraxie zusammenfassen läßt. Den Konzilsvätern ging es nämlich mit überwältigender Mehrheit darum, Kirche zu beschreiben von der gemeinsamen Berufung und Sendung aller her. Zudem ist der Begriff der Communio ein theologischer Begriff, der die Grundstruktur der Kirche, daß sie nicht aus sich selbst lebt, nicht für sich selbst daist, gut zum Ausdruck bringen kann. Insofern deckt der Begriff ab, was in Nr. 1 von Lumen gentium als Definition des quasisakramentalen Charakters der Kirche vorgelegt wird: Die Kirche ist in Christus gleichsam Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit des ganzen Menschengeschlechtes.

Gleichwohl fungiert der Begriff der Communio zur Zeit eher als Schlagwort, eher als Lehrformel, als Zauberformel und zunehmend auch als Reizwort. Dieshängt damit zusammen, daß sich zwar alle in der Kirche auf die Idee der Communio berufen, daß aber mit dieser Idee durchaus unterschiedliche theoretische Konzepte und vor allem praktische Modelle von Kirche verbunden sind, explizit oder implizit. Gemeinsam ist wohl allen Strömungen, daß die Communio der Kirche eine geschenkte vorgegeben und nicht von Menschen gemacht ist. Gleichwohl ist sie natürlich eine von Menschen zu konkretisierende und zu realisierende Communio . Bei dieser Realisation spielt das Verhältnis von Gemeinschaft und Amt, von gemeinsamer Berufung und Leitung eine zentrale Rolle. An dieser Stellescheiden sich dann die Geister.

Aus all dem folgt, daß ein Forschungsprojekt zur Communio -Ekklesiologie, auch wenn, ja gerade weil es die Schnittstelle von Ekklesiologie und Ekklesiopraxie im Blick hat, wesentlich auch systematisch-theologische bzw. dogmatischeReflexion im engeren Sinn zu leisten hat. Sachgemäß geschieht dies, zumal angesichts der gegenwärtigen Problemlage, aber nicht in einem Stufenplan, der vorsähe, daß zunächst "alle"theoretischen Probleme gelöst und dann an die praktische Umsetzung gegangen werde. Vielmehr muß die systematische Selbstbesinnung im Kontext der gegenwärtigen Situation und der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis geschehen.

In diesem Sinn sind folgende systematisch-theologische Grundsatzfragen anzugehen:

- Inwieweit kann der Leitbegriff der Communio die doppelte Realität der Kirche (Kirche lebt nicht aus sich selbst - Kirche lebt nicht für sich selbst) zum Ausdruck bringen?
- Was leistet der theologische Versuch, die ekklesiale Communio in der trinitarischen Communio zu verankern? In diesem Zusammenhang ist vor allem zu fragen, wie sich der Versuch einer solch fundamentalen theologischen Gründung auf das Verhältnis von Ekklesiologie und Ekklesiopraxie auswirkt und welche Argumentationsstrategien von daher aufgebautwerden bzw. werden können.
- Inwiefern kann im Konzept der Communio die sakramentale Struktur der Kirche in dem Sinn deutlich gemacht werden, daß zwischen dem Wesender Kirche als in Gott bzw. in der eucharistischen Koinonia gegründeten Communio und ihrer äußeren Gestalt ein wesensmäßigerZusammenhang besteht?
- In welchem Verhältnis steht die Leitidee der Communio zu anderen zentralen Leitgedanken der Ekklesiologie (Sakrament, Volk Gottes, Leib Christi, Tempel des Geistes usw.)? In diesem Zusammenhang sind die Texte des Vatikanum II einer Relcture zu unterziehen. Was tragen Textgeschichte und Aufarbeitung der Voten, Relationes etc. zur Erklärung wie zur Weiterentwicklung bei?


2. Die beiden Bezugspunkte des systematischen Projekts


a) Rückkoppelung an die Ursprünge

In der Diskussion um die Communio -Ekklesiologie wurde in den letzten Jahren immer wieder die These aufgestellt, im 1. Jahrtausend der Kirchengeschichtehabe eine solche Communio in Theorie und Praxis bestanden. Damit würde den Gestalten von Kirche in den ersten Jahrhunderten des Christentumsexemplarische Bedeutung bzw. Modellcharakter zugesprochen. Mit diesem Rückverweis sind freilich auch eine Menge von Fragen verbunden: In ökumenischerHinsicht stellt sich, wie die Diskussion um das Lima-Papier gezeigt hat,die Frage nach dem Verhältnis der Heiligen Schrift, also der norma normans normata und den nachbiblischen, speziell altkirchlichen Traditionen. So aufschlußreich die Beobachtung sein kann, wie Gemeinden früherer Zeiten versucht haben, das Evangelium und das Leben einer evangeliumsgemäßenGemeinschaft unter der Bedingung der jeweiligen zeit zu realisieren, so wird doch der erste und fundamentale Rückblick aus heutiger Zeit auf die neutestamentliche Situation gehen. In einem Forschungsprojekt, das nicht alle Teilbereiche auf einmal angehen kann, ergibt sich somit eine klarePriorität für die Rückfrage nach dem neutestamentlichen Zeugnis. Die Ausweitung auch auf den alttestamentlichen Befund und damit der Versuch, das biblische Zeugnis insgesamt - gleichwohl in seiner Vielfalt - zur Geltung zu bringen, muß von vornherein im Blick sein, wenn sie auch aus arbeitsökonomischenGründen nicht gleich zu Anfang mit realisiert werden kann. Im Hinblick auf das Verhältnis heutiger dogmatischer Reflexion und neutestamentlichen Vorgaben ergeben sich u.a. folgende Forschungsaufgaben:

- Welche Bedeutung kommt dem Begriff der Koinonia in den neutestamentlichen Schriften zu? - Welche anderen Bilder und Begriffe verwendet das Neue Testament zur Beschreibung der kirchlichen Gemeinschaft?
- Wie weit ist ein Wechselverhältnis zwischen neutestamentlicher Ekklesiologie und Ekklesiopraxie und der Umwelt neutestamentlicher Gemeinden festzustellen?
- Welche Anregungen geben uns die neutestamentlichen Schriften hinsichtlich des Verhältnisses von Gemeinschaft und Individuum, von gemeinsamerBerufung und Leitung zum Prozeß der kollektiven Wahrheitsfindung, Gesetzgebung, Rechtsprechung und pastoralen Planung?

Viele Detailfragen lassen sich in folgender Problembeschreibung bündeln:

- Inwieweit können die Gemeinden der neutestamentlichen Zeit als Kontrastgesellschaften bzw. Alternativgemeinschaften in ihrer Umwelt angesprochen werden?
- Inwieweit drückt sich dies im Gedanken der Koinonia- Communio explizit oder implizit bzw. in Äquivalenten und Synonyma aus?
- Welche hermeneutisch-methodischen Vorgaben lassen sich am verbindlichenZeugnis des Neuen Testamentes im Hinblick auf heutige Ekklesiologie und Ekklesiopraxie ablesen?

b) Rückkoppelung an die heutige Lebenswelt

Der zweite Bezugspunkt des Forschungsprojekts ist die gegenwärtige gesellschaftliche und kirchliche Situation. Systematisch-theologische Reflexion kann sich nicht davon dispensieren, ihre Ekklesiologie angesichts der Zeichen der Zeit zu entwickeln. Deshalb ist der Blick auf die Ekklesiopraxie nicht bloß eine Anwendung dogmatischer Ideen, sondern ein Konstitutivum des dogmatischen Reflexionsprozesses. So wie es für die Dogmatik spätestens seit dem II. Vatikanischen Konzil selbstverständlich geworden ist, sich durch das biblische Zeugnis leiten zu lassen, so muß es nochselbstverständlicher werden, daß die Problemstellung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens/Diskurses mit eingehen in den dogmatischen Arbeitsprozeß. In dem Zusammenhang stellt sich gewiß die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Gesichtspunkte; diese Frage muß in einer Perspektivegelöst werden, die sowohl der Normativität des biblischen Zeugnisses wie dem Stellenwert der gegenwärtigen Situation gerecht wird.

Unabhängig von diesen methodologischen Grundsatzfragen, die begleitend zum Forschungsprojekt reflektiert werden können, ergibt sich die Sinnhaftigkeit dieser Verschränkung durch die Situation der Communio -Ekklesiologie und der Communio -Ekklesiopraxie selbst: In vielen Bereichen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens zumindest in unseren Breiten tauchen der Ekklesiologie und Ekklesiopraxie verwandte Fragestellungen auf. Es sind dies die Fragen nach dem Verhältnis von "Laien" und Experten, nach dem Verhältnis von Kompetenz und Autorität, nach dem Verhältnis von Verantwortung aller und hierarchischer Befehlsstruktur, nach dem Verhältnis von Organisationsstruktur und Zielen der Organisation usw.

Daraus ergibt sich, daß ein Forschungsprojekt zur Communio -Ekklesiologie und Communio -Ekklesiopraxie neben dem ersten Bezugspunkt (neutestamentliche Vorgaben) einen zweiten Bezugspunkt braucht, der wesentlich nicht nur von theologischen Fachleuten aufgearbeitet werden sollte. Daraus ergibt sich, daß neben der Zusammenarbeit mit der Pastoraltheologie und dem Kirchenrecht als den in diesem Zusammenhang einschlägigen praktischen Disziplinen eine Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sich nahelegt, die an dem arbeiten, was mit einem pauschalen Leitwort "Communio-Management" genannt werden kann. Dies können WirtschaftswissenschaftlerInnen, OrganisationspsychologInnen, UnternehmensberaterInnen, SupervisorInnen, PädagogInnen usw. sein.

Fragen, die in diesem interdisziplinären Forschungsbereich zu erörtern wären, sind zunächst die Fragen, die auch im Hinblick auf den ersten Forschungsbereich des Projekts den interdisziplinären Austausch zwischen Dogmatik und Neutestamentlicher Exegese genannt wurden. Weitere Fragen könnten sein:

- Wie stellt sich das Verhältnis von Theorie und Praxis dar?
- Was sind die spezifischen Probleme bei der Umstrukturierung bislang hierarchischorganisierter Unternehmen?
- Weitere Fragen und Probleme sind leicht zu formulieren im Anschluß an die Ausführungen von Tom Peters, besonders in dem Kapitel Experten in hierarchielosen Gesellschaften.

Schließlich hat das bislang mit seinen zwei Bezugspunkten und seinen insgesamt drei Schwerpunkten (Neues Testament, Dogmatische Theologie, Praktische Theologie und Praxiswissenschaften) eine ökumenische Dimension. Diese kann im Zusammenhang des Forschungsprojektes ausdrücklich angegangenwerden, da sich im Zusammenhang mit der Reintegration des Instituts für Ökumenische Forschung in die Katholisch-Katholische Fakultät durch die Personalunion von Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektor eine personelle und organisatorische Verschränkung ergeben hat.


Stand: Juli 1997 Stefan Schumacher: uoiinfo@www.uni-tuebingen.de